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25.02.2000
 
Sonder-Newsletter Nr.1
 

Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen vom 23. Februar 2000 L 4 KR 130/98

Das Landessozialgericht Celle hat in seiner Sitzung am 23. Februar 2000 die Krankenkasse dazu verurteilt, die Kosten für die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) zu zahlen.

Zur Begründung: Die Krankenkasse hat sich darauf berufen, dass der Beschluss des Bundesausschusses für sie verbindlich sei.

Das LSG widerspricht dem mit der Begründung, dass dem Bundesausschuss eine demokratische Legitimierung dafür fehlt, dass seine Beschlüsse absolut verbindlich sind.

Zum Verständnis der zugrunde liegenden Problematik veröffentlicht FERTICONSULT den nachfolgenden Aufsatz von einem Experten der Reproduktionsmedizin, der während der kontroversen Diskussion um die Finanzierung von ICSI durch die Kassen Ende 1998 verfasst wurde.

Abrechnung von der In-Vitro-Fertilisation (IVF) mittels EBM bei zusätzlichem Einsatz der Intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI)

Nach §27 a SGB V ist die Künstliche Befruchtung eine Regelleistung der Krankenkassen, auf die die Versicherten einen Rechtsanspruch haben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

Unter Absatz 4) dieses Paragraphen wird geregelt: "Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen bestimmt in den Richtlinien nach § 92 die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen nach Absatz 1)."

In seiner Sitzung vom 14.8.1990 hat der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen die Richtlinien über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung (kurz: Richtlinien über künstliche Befruchtung) formuliert.

Unter den Überschriften

  • Leistungsvoraussetzungen
  • Methoden
  • Medizinische Indikation
  • Umfang der Maßnahmen
  • Beratung des Ehepaares und Überweisung zur Durchführung der Maßnahmen
  • Berechtigte Ärzte
  • Inkrafttreten
wurden die Einzelheiten geregelt.

Als medizinische Indikation für eine In-Vitro-Fertilisation (IVF) gilt z.B. die Subfertilität des Mannes, sofern Inseminationen keinen Erfolg versprechen oder erfolglos geblieben sind (Punkt 11.3).

Man nimmt an, daß andrologische Subfertilität zu etwa 40% am unerfüllten Kinderwunsch alleine oder in Kombination mit gynäkologischen Ursachen beteiligt ist. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gibt es bisher keine erfolgreiche medikamentöse Behandlungsmethode der andrologischen Subfertilität. Die Hoffnungen, die in die reine IVF-Behandlung gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Die Imprägnationsschwäche (Befruchtungsschwäche) der Spermien bei andrologischer Subfertilität konnte auch durch die Insemination in vitro nicht befriedigend überwunden werden. Mit ICSI kann nunmehr das Unvermögen von Spermien bei andrologischer Subfertilität, in die Eizelle spontan einzudringen, prothetisch überwunden und eine Befruchtung in vitro herbeigeführt werden. Dies bedeutet, daß ICSI im Rahmen von IVF einen andrologischen Faktor in der Regel komplett beseitigt, d.h. die meisten Ehepaare mit andrologisch bedingter Sterilität können mit Hilfe von IVF-ICSI Eltern werden.

Angesichts dieser Erfolge in der Überwindung andrologischer Sterilität bzw. Subfertilität und des Tatbestandes, daß fast die Hälfte von Ehesterilitäten andrologische Ursachen haben, waren eine steigende Inanspruchnahme dieser Methode und damit auch steigende Kosten zu erwarten. Diesen Kosten stehen allerdings tausende geborener gesunder Kinder gegenüber.

In dieser Situation mußten die Richtlinien überarbeitet werden. In der Fassung vom 1.10.1997 erhielten sie gegenüber der ursprünglichen Fassung Ergänzungen.

Bei Methoden heißt es unter Punkt 10.5:

Die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) ist derzeit keine Methode der künstlichen Befruchtung im Sinne dieser Richtlinien, da für die Beurteilung dieser Methode keine ausreichenden Unterlagen vorgelegt wurden und daher die Voraussetzungen für eine Anerkennung der Methode in der vertragsärztlichen Versorgung noch nicht vorliegen. Unter einer Protokollnotiz zum Beschluß des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vom 1.10.1997 heißt es:

"In Ergänzung des Beschlusses des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur Änderung der Richtlinien über künstliche Befruchtung im Hinblick auf die Methode der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) stellt der Bundesausschuß folgendes fest:

Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen fordert die Erbringer der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion als Methode der künstlichen Befruchtung auf, durch entsprechende Studien gesicherte Daten, z.B. in Anlehnung an das Mainzer Modell zu gewinnen, die auf der Basis einer prospektiven Dokumentation eine strukturierte und transparente Erfassung der nach Intracytoplasmatischer Spermieninjektion geborener Kinder gewährleisten."

Die Richtlinien in der Fassung vom 1.10.1997 wurden von den Ärzten und gesetzlichen Krankenkassen in der Regel so verstanden, daß ICSI (noch) nicht als Regelleistung der gesetzlichen Kassen zu gelten habe und demnach noch kein rechtlicher Anspruch auf diese Behandlungsmethode besteht.

Erfolgreiche Behandlungen, die noch keine Regelleistungen sind, werden kassenrechtlich als sog. Außenseitermethoden betrachtet, und es besteht gemäß Bundessozialgerichtsrechtsprechung die Möglichkeit, daß Versicherte auf dem Wege der Kostenrückerstattung in den Genuß solcher, noch nicht als Regelleistung anerkannter Therapiemaßnahmen kommen. In Bezug auf ICSI setzte sich daher ungeachtet der neugefaßten Richtlinien bzw. in vermeintlicher Übereinstimmung mit ihnen auf Seiten der Krankenkassen die Praxis der Kostenrückerstattung der ICSI-Maßnahme als Zusatz zur IVF-Methode fort. Die Ärzte lieferten die dafür geforderten Indikationsbescheinigungen, und die erforderliche Grundleistung IVF wurde als Regelleistung über den Überweisungsschein bzw. die Versichertenkarte unmittelbar mit den Krankenkassen abgerechnet.

Infolge der weiter steigenden Inanspruchnahme der ICSI-Methode und der vermeintlichen Fehlinterpretation der Richtlinien in der Fassung vom 1.10.1997 durch Ärzte und Krankenkassen sahen sich die Kassenärztliche Bundesvereingung und die Spitzenverbände der Krankenkassen zu der Gemeinsamen Stellungnahme vom 26.11.1998 veranlaßt.

Hierin appellieren sie "eindringlich an die Krankenkassen, die vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen getroffenen Entscheidung zum Ausschluß von ICSI als vertragsärztliche Leistung im Sinne der Richtlinien des Bundesausschusses stringent umzusetzen". Offenbar in Anerkennung der mißverständlichen Formulierungen in den Richtlinien vom 1.10.1997 wird daher verdeutlicht: "Die Kostenübernahme für Maßnahmen der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion, auch im Sinne einer Kostenerstattung, ist daher auszuschließen."

Als Begründung für diesen Ausschluß wird in der Gemeinsamen Stellungnahme ausgeführt: "So sind die derzeit vorliegenden Informationen über Fehlbildungen und Chromosomenanomalien in durch Intracytoplsamatische Spermieninjektion erzielten Schwangerschaften und bei den geborenen Kindern einschließlich der Auswirkungen auf die spätere Fertilität nach wie vor unzureichend. Die bisher vorhandenen Daten über aktive Fehlbildungsdiagnostik bei nach ICSI geborenen Kindern reichen für eine abschließende Beurteilung des Risikos und der Häufigkeit von Fehlbildungen in solchen Schwangerschaften nicht aus. Dies gilt auch für die Frage nach einem erhöhten Risiko für Chromosomenanomalien in solchen Schwangerschaften. Für beides ist eine Risokoerhöhung nach ICSI nicht auszuschließen. Aus der wissenschaftlichen Fachdiskussion ergeben sich eher noch Hinweise, daß die Fehlbildungsrate bei nach ICSI geborenen Kindern erhöht sein könnte."

Die Reproduktionsmediziner in Deutschland (Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, des Berufsverbandes der Frauenärzte und der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologie, Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin, publiziert in DER FRAUENARZT, Juni 1995), der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer sowie die Projektgruppe "P10 Fertilisation" des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen sind dagegen aufgrund internationaler Daten, die durch neuere Ergebnisse gestützt werden, davon überzeugt, daß nach ICSI geborenen Kinder kein erhöhtes Mißbildungsrisiko gegenüber spontan gezeugten oder nach IVF geborenen Kindern aufweisen, wenn entsprechend den "Empfehlungen zur Durchführung der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) als Zusatzmaßnahme bei IVF-ET-Therapie" (DER FRAUENARZT, Juni 1995) vorgegangen wird.

Es ist unbestritten, daß genetisch verankerte Eigenschaften, Störungen und Erkrankungen durch spontane und künstliche Fortpflanzung vererbt werden können. Dazu gehören u.a. das essentielle Hochdruckleiden, die Veranlagung zum M. Bechterew u.a.m. Aus dem Bereich der Fortpflanzungsstörungen sind dies die Neigung zur Endometriose, das Polycystische Ovarialsyndrom (PCO-Syndrom), der hypogonadotrope Hypogonadismus, Enzymdefekte u.a.m., ohne daß man diesen Personen im Falle unerfüllten Kinderwunsches reproduktionsmedizinische Hilfe versagen würde.

Im Falle chromosomal verankerter Subfertilität des Ehemannes kann diese bei zufälliger Spontankonzeption oder bei Konzeption nach ICSI an den Sohn vererbt werden. Aus Familien mit andrologischer Subfertilität ist bekannt, daß die Konzeptionschancen z.B. in der Elterngeneration als gering im Vergleich zu anderen Familien wahrgenommen wurden. Des weiteren haben Eltern, die die Sprechstunde wegen andrologisch bedingter sekundäre Sterilität aufsuchen, häufig auf das früher spontan konzipierte Kind lange warten müssen. Es ist also durchaus zu erwarten, daß genetisch verankerte, an das Y-Chromosom gebundene andrologische Subfertilität Auswirkungen auf die spätere Fertilität haben kann. Die nicht ausgeschlossenen Auswirkung auf die spätere Fertilität ist jedoch nicht ICSI-bedingt, sondern darauf zurückzuführen, daß ein Mann mit andrologischer Subfertilität durch ICSI Vater eines Sohnes werden kann, der die Y-Chromosom-gebundenen Merkmale seines Vaters erbt.

Zukünftige Eltern, die ICSI durchführen lassen wollen, werden darüber in einer humangenetischen Beratung aufgeklärt und können selbst entscheiden, ob sie ihrem zukünftigen Sohn eine andrologische Subfertilität oder generell andere vielleicht nicht ganz optimale eigene vererbliche Merkmale, wie z.B. einen geringen IQ, eine essentielle Hypertonie oder eine Endometriose ihren zukünftigen Kindern bzw. Töchtern zumuten können.

Die Verweigerung der Kostenübernahme von ICSI aus o. g. Gründen bei Ehepaaren mit andrologisch bedingter Sterilität stützt sich daher auf fragwürdige eugenische Aspekte, die dem Selbstbestimmungsrecht auf Fortpflanzung krass zuwiderlaufen.

Es ist daher zu vermuten, daß der vehemente Vorstoß zum Ausschluß von ICSI aus der Kostenrückerstattung, wie er in der Gemeinsamen Stellungnahme vom 26.11.1998 zum Ausdruck kommt, zumindest zum Teil andere Hintergründe hat.

Offizielle Schriftstücke belegen, daß es sich zumindest in der jetzigen Akzentuierung im wesentlichen um eine Honorarverteilungsproblematik handelt. So schreibt die Kassenärztliche Vereinigung XXXX mit Schreiben vom 15.1.1999:

"......bedeutet im Klartext der unerfüllte Wunsch nach einem Kind eine Finanzierung des Mehrbedarfs der Leistungen aus dem Topf der Frauenärzte zu Gunsten Einzelner, die die künstliche Befruchtung durchführen....."

Dieser Tatbestand ist richtig. Nur:

Die gegenwärtige Problematik wurde durch den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen durch seine Richtlinien von 1990 selbst verursacht und in der Neufassung von 1997 nicht ausgeräumt.

Der schwerwiegende und folgenreiche Fehler in den Richtlinien besteht darin, daß als Folge des Einschlusses der Indikation "andrologische Subfertilität" die Behandlung einer nicht-gynäkologischen Erkrankung mittels Methoden der Reproduktionsmedizin aus dem Topf der Frauenärzte finanziert wird. Hierbei spielt ICSI insofern eine Rolle, als durch sie als Zusatzmethode die IVF-Behandlung bei andrologischer Subfertilität ungemein erfolgreich wurde. Die Tendenz zur gesteigerten Anwendung von IVF-ET aus andrologischer Indikation war aber bereits nach Veröffentlichung der Richtlinien zur künstlichen Befruchtung und noch vor der Einführung von ICSI deutlich erkennbar. Nicht ICSI, deren Kosten von den Kassen rückerstattet wird, belastet den Gynäkologentopf, sondern die im Budget befindliche Grundleistung IVF auf der Basis einer andrologischen Indikation.

Dieser systematische Fehler findet auf Seiten der Kassen seine Entsprechung in der Regelung der Kassen untereinander, die Kostenrückerstattung bei ICSI der Krankenkasse der Ehefrau zuzuordnen.

Die Formulierung der Richtlinien von 1997 läßt einen breiten Interpretationsspielraum. Anders wäre es nicht zu verstehen, daß bis heute fast sämtliche Krankenkassen ICSI auf dem Wege der Kostenrückerstattung finanziert und dabei gleichzeitig die Kassenärztlichen Vereinigungen die IVF-Maßnahme als nach EBM abrechenbare Grundleistung akzeptiert haben.

Aus Gründen der Abrechnungsrechtssicherheit bei der durch die "Gemeinsame Stellungnahme vom 26. November 1998" akzentuierten Problematik sah ich mich mit Schreiben vom 16.1.1999 (als Reaktion auf das Schreiben der KV-XXXX vom 18.12.1998; eingegangen über die Bezirksstelle XXXX am 12.1.1999) an die Kassenärztliche Vereinigung XXXX zu der Anfrage veranlaßt, ob die IVF-Behandlung bei allen bisher akzeptierten Indikationen auch weiterhin nach EBM abgerechnet werden kann.

Grundlage meine Anfrage waren folgende Tatbestände:

  1. Nicht selten beruht eine Ehesterilität auf einer ursächlichen Konstellation, die für ihre Überwindung sowohl eine IVF-Behandlung aus gynäkologischer und eine IVF/ICSI-Behandlung aus andrologischer Indikation notwendig macht.
  2. Die andrologische Subfertilität ist als Indikation für die IVF-Behandlung anerkannt. Ich betrachte es allerdings als meine ärztliche Pflicht, Paare darauf hinzuweisen, daß durch Einsatz einer Zusatzmethode, nämlich der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion, deren Kosten sie freilich selbst tragen müssen, die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft ungleich gesteigert werden kann.
Mit Schreiben vom 25.1.1999 wurde von dem Vorsitzenden der KV-XXXX, Herrn Dr. xxxxx, geantwortet:

"Wir werden auf diese Angelegenheit zurückkommen, wenn die Spitzenverbände sich zu dieser Frage definitiv geäußert haben."...

Ende des Auszugs des Aufsatzes

Die Spitzenverbände hatten sich zum Jahreswechsel 1998/99 definitiv geäußert:

Die Kosten für ICSI durften nicht mehr von den Kassen übernommen werden und auch die IVF-Grundleistung inklusive der Medikamentekosten mussten von den Paaren komplett selber getragen werden.

War ICSI im Rahmen einer IVF-Behandlung nicht erforderlich, so wurden die Kosten der IVF-Behandlung weiterhin von den Kassen per Überweisungsschein oder Chipkarte getragen.

Das Urteil des LSG Niedersachsen ist eine wichtige Etappe zurück zu einer gerechten Finanzierung einer Sterilitätsbehandlung aus andrologischer Indikation.

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Gerhard Leyendecker