Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen
vom 23. Februar 2000 L 4 KR 130/98
Das Landessozialgericht Celle hat in seiner Sitzung am 23. Februar 2000
die Krankenkasse dazu verurteilt, die Kosten für die Intracytoplasmatische
Spermieninjektion (ICSI) zu zahlen.
Zur Begründung: Die Krankenkasse hat sich darauf berufen, dass
der Beschluss des Bundesausschusses für sie verbindlich sei.
Das LSG widerspricht dem mit der Begründung, dass dem Bundesausschuss
eine demokratische Legitimierung dafür fehlt, dass seine Beschlüsse
absolut verbindlich sind.
Zum Verständnis der zugrunde liegenden Problematik veröffentlicht
FERTICONSULT den nachfolgenden Aufsatz von einem Experten der Reproduktionsmedizin,
der während der kontroversen Diskussion um die Finanzierung von ICSI
durch die Kassen Ende 1998 verfasst wurde.
Abrechnung von der In-Vitro-Fertilisation (IVF) mittels EBM
bei zusätzlichem Einsatz der Intracytoplasmatischer Spermieninjektion
(ICSI)
Nach §27 a SGB V ist die Künstliche Befruchtung eine
Regelleistung der Krankenkassen, auf die die Versicherten einen Rechtsanspruch
haben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Unter Absatz 4) dieses Paragraphen wird geregelt: "Der Bundesausschuß
der Ärzte und Krankenkassen bestimmt in den Richtlinien nach §
92 die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang
der Maßnahmen nach Absatz 1)."
In seiner Sitzung vom 14.8.1990 hat der Bundesausschuß der Ärzte
und Krankenkassen die Richtlinien über ärztliche Maßnahmen
zur künstlichen Befruchtung (kurz: Richtlinien über künstliche
Befruchtung) formuliert.
Unter den Überschriften
- Leistungsvoraussetzungen
- Methoden
- Medizinische Indikation
- Umfang der Maßnahmen
- Beratung des Ehepaares und Überweisung zur Durchführung der Maßnahmen
- Berechtigte Ärzte
- Inkrafttreten
wurden die Einzelheiten geregelt.
Als medizinische Indikation für eine In-Vitro-Fertilisation (IVF)
gilt z.B. die Subfertilität des Mannes, sofern Inseminationen keinen
Erfolg versprechen oder erfolglos geblieben sind (Punkt 11.3).
Man nimmt an, daß andrologische Subfertilität zu etwa 40%
am unerfüllten Kinderwunsch alleine oder in Kombination mit gynäkologischen
Ursachen beteiligt ist. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
gibt es bisher keine erfolgreiche medikamentöse Behandlungsmethode
der andrologischen Subfertilität. Die Hoffnungen, die in die reine
IVF-Behandlung gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Die Imprägnationsschwäche (Befruchtungsschwäche) der Spermien bei andrologischer Subfertilität konnte auch durch die Insemination in vitro nicht befriedigend überwunden werden. Mit ICSI kann nunmehr das Unvermögen von Spermien bei andrologischer Subfertilität, in die Eizelle spontan einzudringen, prothetisch überwunden und eine Befruchtung in vitro herbeigeführt werden. Dies bedeutet,
daß ICSI im Rahmen von IVF einen andrologischen Faktor in der Regel
komplett beseitigt, d.h. die meisten Ehepaare mit andrologisch bedingter
Sterilität können mit Hilfe von IVF-ICSI Eltern werden.
Angesichts dieser Erfolge in der Überwindung andrologischer Sterilität
bzw. Subfertilität und des Tatbestandes, daß fast die Hälfte
von Ehesterilitäten andrologische Ursachen haben, waren eine steigende
Inanspruchnahme dieser Methode und damit auch steigende Kosten zu erwarten.
Diesen Kosten stehen allerdings tausende geborener gesunder Kinder gegenüber.
In dieser Situation mußten die Richtlinien überarbeitet werden.
In der Fassung vom 1.10.1997 erhielten sie gegenüber der ursprünglichen
Fassung Ergänzungen.
Bei Methoden heißt es unter Punkt 10.5:
Die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) ist derzeit
keine Methode der künstlichen Befruchtung im Sinne dieser Richtlinien,
da für die Beurteilung dieser Methode keine ausreichenden Unterlagen
vorgelegt wurden und daher die Voraussetzungen für eine Anerkennung
der Methode in der vertragsärztlichen Versorgung noch nicht vorliegen.
Unter einer Protokollnotiz zum Beschluß des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen vom 1.10.1997 heißt es:
"In Ergänzung des Beschlusses des Bundesausschusses der Ärzte
und Krankenkassen zur Änderung der Richtlinien über künstliche
Befruchtung im Hinblick auf die Methode der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) stellt der Bundesausschuß folgendes fest:
Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen fordert die
Erbringer der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion als Methode der
künstlichen Befruchtung auf, durch entsprechende Studien gesicherte
Daten, z.B. in Anlehnung an das Mainzer Modell zu gewinnen, die auf der
Basis einer prospektiven Dokumentation eine strukturierte und transparente
Erfassung der nach Intracytoplasmatischer Spermieninjektion geborener Kinder
gewährleisten."
Die Richtlinien in der Fassung vom 1.10.1997 wurden von den Ärzten
und gesetzlichen Krankenkassen in der Regel so verstanden, daß ICSI
(noch) nicht als Regelleistung der gesetzlichen Kassen zu gelten habe und
demnach noch kein rechtlicher Anspruch auf diese Behandlungsmethode besteht.
Erfolgreiche Behandlungen, die noch keine Regelleistungen sind, werden
kassenrechtlich als sog. Außenseitermethoden betrachtet, und es besteht
gemäß Bundessozialgerichtsrechtsprechung die Möglichkeit,
daß Versicherte auf dem Wege der Kostenrückerstattung in den
Genuß solcher, noch nicht als Regelleistung anerkannter Therapiemaßnahmen
kommen. In Bezug auf ICSI setzte sich daher ungeachtet der neugefaßten
Richtlinien bzw. in vermeintlicher Übereinstimmung mit ihnen auf Seiten
der Krankenkassen die Praxis der Kostenrückerstattung der ICSI-Maßnahme
als Zusatz zur IVF-Methode fort. Die Ärzte lieferten die dafür
geforderten Indikationsbescheinigungen, und die erforderliche Grundleistung
IVF wurde als Regelleistung über den Überweisungsschein bzw.
die Versichertenkarte unmittelbar mit den Krankenkassen abgerechnet.
Infolge der weiter steigenden Inanspruchnahme der ICSI-Methode und der
vermeintlichen Fehlinterpretation der Richtlinien in der Fassung vom 1.10.1997
durch Ärzte und Krankenkassen sahen sich die Kassenärztliche
Bundesvereingung und die Spitzenverbände der Krankenkassen zu der
Gemeinsamen Stellungnahme vom 26.11.1998 veranlaßt.
Hierin appellieren sie "eindringlich an die Krankenkassen, die vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen getroffenen Entscheidung zum Ausschluß von ICSI als vertragsärztliche Leistung im Sinne der Richtlinien des
Bundesausschusses stringent umzusetzen". Offenbar in Anerkennung der mißverständlichen Formulierungen in den Richtlinien vom 1.10.1997 wird daher verdeutlicht: "Die Kostenübernahme für Maßnahmen der Intracytoplasmatischen
Spermieninjektion, auch im Sinne einer Kostenerstattung, ist daher auszuschließen."
Als Begründung für diesen Ausschluß wird in der Gemeinsamen
Stellungnahme ausgeführt: "So sind die derzeit vorliegenden Informationen
über Fehlbildungen und Chromosomenanomalien in durch Intracytoplsamatische
Spermieninjektion erzielten Schwangerschaften und bei den geborenen Kindern
einschließlich der Auswirkungen auf die spätere Fertilität
nach wie vor unzureichend. Die bisher vorhandenen Daten über aktive
Fehlbildungsdiagnostik bei nach ICSI geborenen Kindern reichen für
eine abschließende Beurteilung des Risikos und der Häufigkeit
von Fehlbildungen in solchen Schwangerschaften nicht aus. Dies gilt auch
für die Frage nach einem erhöhten Risiko für Chromosomenanomalien
in solchen Schwangerschaften. Für beides ist eine Risokoerhöhung
nach ICSI nicht auszuschließen. Aus der wissenschaftlichen Fachdiskussion
ergeben sich eher noch Hinweise, daß die Fehlbildungsrate bei nach
ICSI geborenen Kindern erhöht sein könnte."
Die Reproduktionsmediziner in Deutschland (Stellungnahme der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, des Berufsverbandes
der Frauenärzte und der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologie,
Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin, publiziert in DER FRAUENARZT,
Juni 1995), der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer sowie
die Projektgruppe "P10 Fertilisation" des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen sind dagegen aufgrund internationaler Daten, die durch neuere Ergebnisse gestützt werden, davon überzeugt, daß
nach ICSI geborenen Kinder kein erhöhtes Mißbildungsrisiko gegenüber
spontan gezeugten oder nach IVF geborenen Kindern aufweisen, wenn entsprechend
den "Empfehlungen zur Durchführung der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion
(ICSI) als Zusatzmaßnahme bei IVF-ET-Therapie" (DER FRAUENARZT, Juni
1995) vorgegangen wird.
Es ist unbestritten, daß genetisch verankerte Eigenschaften, Störungen
und Erkrankungen durch spontane und künstliche Fortpflanzung vererbt
werden können. Dazu gehören u.a. das essentielle Hochdruckleiden,
die Veranlagung zum M. Bechterew u.a.m. Aus dem Bereich der Fortpflanzungsstörungen sind dies die Neigung zur Endometriose, das Polycystische Ovarialsyndrom (PCO-Syndrom), der hypogonadotrope Hypogonadismus, Enzymdefekte u.a.m., ohne daß man diesen Personen im Falle unerfüllten Kinderwunsches reproduktionsmedizinische Hilfe versagen würde.
Im Falle chromosomal verankerter Subfertilität des Ehemannes kann
diese bei zufälliger Spontankonzeption oder bei Konzeption nach ICSI
an den Sohn vererbt werden. Aus Familien mit andrologischer Subfertilität
ist bekannt, daß die Konzeptionschancen z.B. in der Elterngeneration
als gering im Vergleich zu anderen Familien wahrgenommen wurden. Des weiteren
haben Eltern, die die Sprechstunde wegen andrologisch bedingter sekundäre
Sterilität aufsuchen, häufig auf das früher spontan konzipierte
Kind lange warten müssen. Es ist also durchaus zu erwarten, daß
genetisch verankerte, an das Y-Chromosom gebundene andrologische Subfertilität
Auswirkungen auf die spätere Fertilität haben kann. Die nicht
ausgeschlossenen Auswirkung auf die spätere Fertilität ist jedoch
nicht ICSI-bedingt, sondern darauf zurückzuführen, daß
ein Mann mit andrologischer Subfertilität durch ICSI Vater eines Sohnes
werden kann, der die Y-Chromosom-gebundenen Merkmale seines Vaters erbt.
Zukünftige Eltern, die ICSI durchführen lassen wollen, werden
darüber in einer humangenetischen Beratung aufgeklärt und können
selbst entscheiden, ob sie ihrem zukünftigen Sohn eine andrologische
Subfertilität oder generell andere vielleicht nicht ganz optimale
eigene vererbliche Merkmale, wie z.B. einen geringen IQ, eine essentielle
Hypertonie oder eine Endometriose ihren zukünftigen Kindern bzw. Töchtern
zumuten können.
Die Verweigerung der Kostenübernahme von ICSI aus o. g. Gründen
bei Ehepaaren mit andrologisch bedingter Sterilität stützt sich
daher auf fragwürdige eugenische Aspekte, die dem Selbstbestimmungsrecht
auf Fortpflanzung krass zuwiderlaufen.
Es ist daher zu vermuten, daß der vehemente Vorstoß zum
Ausschluß von ICSI aus der Kostenrückerstattung, wie er in der
Gemeinsamen Stellungnahme vom 26.11.1998 zum Ausdruck kommt, zumindest
zum Teil andere Hintergründe hat.
Offizielle Schriftstücke belegen, daß es sich zumindest in
der jetzigen Akzentuierung im wesentlichen um eine Honorarverteilungsproblematik
handelt. So schreibt die Kassenärztliche Vereinigung XXXX mit Schreiben
vom 15.1.1999:
"......bedeutet im Klartext der unerfüllte Wunsch nach einem Kind
eine Finanzierung des Mehrbedarfs der Leistungen aus dem Topf der Frauenärzte
zu Gunsten Einzelner, die die künstliche Befruchtung durchführen....."
Dieser Tatbestand ist richtig. Nur:
Die gegenwärtige Problematik wurde durch den Bundesausschuß
der Ärzte und Krankenkassen durch seine Richtlinien von 1990 selbst
verursacht und in der Neufassung von 1997 nicht ausgeräumt.
Der schwerwiegende und folgenreiche Fehler in den Richtlinien besteht
darin, daß als Folge des Einschlusses der Indikation "andrologische
Subfertilität" die Behandlung einer nicht-gynäkologischen Erkrankung
mittels Methoden der Reproduktionsmedizin aus dem Topf der Frauenärzte
finanziert wird. Hierbei spielt ICSI insofern eine Rolle, als durch sie
als Zusatzmethode die IVF-Behandlung bei andrologischer Subfertilität
ungemein erfolgreich wurde. Die Tendenz zur gesteigerten Anwendung von
IVF-ET aus andrologischer Indikation war aber bereits nach Veröffentlichung
der Richtlinien zur künstlichen Befruchtung und noch vor der Einführung
von ICSI deutlich erkennbar. Nicht ICSI, deren Kosten von den Kassen rückerstattet wird, belastet den Gynäkologentopf, sondern die im Budget befindliche Grundleistung IVF auf der Basis einer andrologischen Indikation.
Dieser systematische Fehler findet auf Seiten der Kassen seine Entsprechung
in der Regelung der Kassen untereinander, die Kostenrückerstattung
bei ICSI der Krankenkasse der Ehefrau zuzuordnen.
Die Formulierung der Richtlinien von 1997 läßt einen breiten
Interpretationsspielraum. Anders wäre es nicht zu verstehen, daß
bis heute fast sämtliche Krankenkassen ICSI auf dem Wege der Kostenrückerstattung finanziert und dabei gleichzeitig die Kassenärztlichen Vereinigungen die IVF-Maßnahme als nach EBM abrechenbare Grundleistung akzeptiert haben.
Aus Gründen der Abrechnungsrechtssicherheit bei der durch die "Gemeinsame
Stellungnahme vom 26. November 1998" akzentuierten Problematik sah ich
mich mit Schreiben vom 16.1.1999 (als Reaktion auf das Schreiben der KV-XXXX
vom 18.12.1998; eingegangen über die Bezirksstelle XXXX am 12.1.1999)
an die Kassenärztliche Vereinigung XXXX zu der Anfrage veranlaßt,
ob die IVF-Behandlung bei allen bisher akzeptierten Indikationen auch weiterhin
nach EBM abgerechnet werden kann.
Grundlage meine Anfrage waren folgende Tatbestände:
- Nicht selten beruht eine Ehesterilität auf einer ursächlichen
Konstellation, die für ihre Überwindung sowohl eine IVF-Behandlung
aus gynäkologischer und eine IVF/ICSI-Behandlung aus andrologischer Indikation notwendig macht.
- Die andrologische Subfertilität ist als Indikation für die IVF-Behandlung
anerkannt. Ich betrachte es allerdings als meine ärztliche Pflicht,
Paare darauf hinzuweisen, daß durch Einsatz einer Zusatzmethode,
nämlich der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion, deren Kosten
sie freilich selbst tragen müssen, die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft
ungleich gesteigert werden kann.
Mit Schreiben vom 25.1.1999 wurde von dem Vorsitzenden der KV-XXXX, Herrn
Dr. xxxxx, geantwortet:
"Wir werden auf diese Angelegenheit zurückkommen, wenn die Spitzenverbände
sich zu dieser Frage definitiv geäußert haben."...
Ende des Auszugs des Aufsatzes
Die Spitzenverbände hatten sich zum Jahreswechsel 1998/99 definitiv
geäußert:
Die Kosten für ICSI durften nicht mehr von den Kassen übernommen
werden und auch die IVF-Grundleistung inklusive der Medikamentekosten
mussten von den Paaren komplett selber getragen werden.
War ICSI im Rahmen einer IVF-Behandlung nicht erforderlich, so wurden
die Kosten der IVF-Behandlung weiterhin von den Kassen per Überweisungsschein
oder Chipkarte getragen.
Das Urteil des LSG Niedersachsen ist eine wichtige Etappe zurück
zu einer gerechten Finanzierung einer Sterilitätsbehandlung aus andrologischer
Indikation.