"Der Embryo gehört in den Mutterleib"
Der Darmstädter Reproduktionsmediziner Gerhard Leyendecker zum Umgang mit
künstlich befruchteten Eizellen
Interview von Lisa Sandratski, Darmstädter Echo vom 16.06.01
Frage: Professor Leyendecker, die aktuelle Diskussion rund um die
Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Forschung mit embryonalen
Stammzellen hat die Frage nach dem Beginn des Lebens wieder in den
Mittelpunkt gerückt. Viele Forscher setzen sich für eine Änderung des
Embryonenschutzgesetzes ein. Was halten Sie vom Verlauf der Diskussion?
Leyendecker : Ich halte sie für außerordentlich wichtig. Allerdings wird in
Deutschland zu prinzipiell und zu theoretisch diskutiert. Der Aspekt des
Heilens wird zu wenig betont. Keine Frage: Das Leben beginnt mit der
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Das Lebensrecht des Embryos muss
geachtet werden. Dieses Recht kann man nur relativieren, wenn das Argument
sehr stark ist - wie beim Schwangerschaftsabbruch. In der
Reproduktionsmedizin gibt es dieses Argument: Es ist die Gesundheit von
Mutter und Kind.
Frage: Kommen Reproduktionsmediziner zu wenig zu Wort?
Leyendecker : In der ganzen Diskussion über die Embryonenforschung ist auf
die Reproduktionsmedizin wenig Bezug genommen worden. Für das Schicksal der
Mütter und Kinder scheint sich niemand zu interessieren. Man redet von
Ethik und Embryonenschutz - aber nicht von den Betroffenen. Das Argument
für eine Modifizierung des Embryonenschutzgesetzes muss aus der Medizin
kommen. Die Medizin hat genügend ethische Grundsätze etabliert, die
hierbei zur Anwendung kommen sollen. Ein Hauptprinzip ist dabei: Nicht
schaden.
Frage: Sie betonen häufig, dass die Fortpflanzung ein Grundrecht ist. Gibt es ein
Recht auf ein gesundes Kind?
Leyendecker : Es gibt Schicksalsschläge, die man akzeptieren muss. Dazu
gehört ein krankes Kind oder eine Behinderung aufgrund eines Unfalls oder
einer Krankheit. Ganz klar: Behinderte benötigen unsere ganze Zuwendung
und Hilfe. Man hat kein Grundrecht auf ein gesundes Kind. Wenn es aber im
Rahmen einer Kinderwunschbehandlung möglich ist festzustellen, dass der
Embryo, der transferiert werden soll, nicht krank ist, dann ist es eine
Verpflichtung der Medizin, dies zu tun. Wenn es möglich ist, im
Reagenzglas zwischen einem lebensfähigen und einem nicht
entwicklungsfähigen Embryo zu unterscheiden, dann ist es eine
Verpflichtung, den lebensfähigen Embryo zu übertragen.
Frage: Wie soll eine Modifizierung des Gesetzes Ihrer Meinung nach aussehen?
Leyendecker : Sie könnte darin bestehen, dass der Arzt in voller
Verantwortung das Wachsen mehrerer Embryonen im Reagenzglas verfolgt und
erkennt, welcher Embryo nicht lebensfähig ist. Nicht lebensfähige
Embryonen zu übertragen und damit einen Misserfolg der Behandlung von
vorneherein herbeizuführen, wäre geradezu Scharlatanerie.
Frage: Soll das Gesetz also Untersuchungen an einem im Reagenzglas erzeugten Embryo ermöglichen - zum Beispiel die PID?
Leyendecker: Die PID wird in der Reproduktionsmedizin im großen Umfang sicherlich nicht benötigt, da das
Alter der behandelten Frauen im wesentlichen unter 35 Jahren liegt, also
die Wahrscheinlichkeit genetischer Defekte wie einer Trisomie gering ist.
In der Routinesprechstunde im Rahmen einer künstlichen Befruchtung ist
daher eine PID nicht notwendig. Anders ist die Situation bei älteren Frauen
mit gesteigertem Risiko chromosomaler Irrtümer. In einigen Zentren im
westlichen Ausland ist in solchen Fällen die PID bereits Bestandteil der
künstlichen Befruchtung. Man schätzt, dass in Deutschland etwa 50 bis 150
Paare im Jahr auf Grund einer bekannten Erbkrankheit zur Vermeidung einer
späteren Schwangerschaftsunterbrechung eine PID benötigen. Bei diesen wäre
dann die PID die Indikation zur Durchführung einer künstlichen
Befruchtung.
Frage: Welche anderen Methoden gibt es, einen künstlich erzeugten Embryo zu
untersuchen?
Leyendecker : Bei der künstlichen Befruchtung werden im Schnitt sechs bis
zehn Zygoten, also Eizellen, in die der Samenfaden bereits eingedrungen
ist, erzeugt. Erfahrungsgemäß entwickeln sich von zehn Zygoten nur drei zu
einem lebensfähigen Embryo weiter. Das liegt auch daran, dass etwa 50
Prozent der Eizellen der Frau von vorn herein chromosomal defekt sind. Im
Mikroskop kann man bereits im Achtzellstadium, also am dritten Tag der
Embryokultur, abschätzen, welche Embryonen sich weiterentwickeln werden
und welche nicht. Eine solche Untersuchung ist im Ausland möglich.
Frage: In Deutschland ist diese mikroskopische Untersuchung nicht erlaubt?
Leyendecker : Nein. Das Embryonenschutzgesetz verbietet eine Auswahl und
erlaubt nur eine Art Lotteriespiel. Wir wählen zufällig drei Zygoten aus,
die sich zu Embryonen entwickeln und dann alle transferiert werden müssen.
Daraus kann eine Mehrlingsschwangerschaft resultieren - aber auch ein
Misserfolg der Behandlung, wenn alle drei Embryonen nicht entwicklungsfähig
waren. Die Folge ist eine vergleichsweise niedrige Schwangerschaftsrate in
Deutschland und eine relativ hohe Zwillings- oder Drillingsrate.
Mehrlingsschwangerschaften gehören für uns zu den ernsthaftesten
Komplikationen in der Reproduktionsmedizin, weil sie Mutter und Kind
gefährden. In Deutschland nimmt man eine Drillingsschwangerschaft in Kauf,
mit der möglichen Geburt der Kinder in der 23. Schwangerschaftswoche, die
dann mit hoher Wahrscheinlichkeit, wenn sie überleben, dauerhaft
geschädigt sind. Es kann nicht sein, dass in solcher Situation das
Lebensrecht eines Embryos höher zu veranschlagen ist - eines Embryos, von
dem wir noch gar nicht wissen, ob er überhaupt lebensfähig ist.
Frage: Muss man da einem Paar nicht empfehlen, ins Ausland zu gehen?
Leyendecker : Die Paare sind darüber informiert, dass es im Ausland andere
und zum Teil bessere Möglichkeiten gibt. Einige, vor allem ältere, gehen
nach Brüssel, London oder nach Holland. Unsere Patienten können die
jetzige, zum Teil groteske Diskussion übrigens überhaupt nicht
nachvollziehen. Nebenbei: Die Sterilität, also der unerfüllte
Kinderwunsch, ist eine der häufigsten Diagnosen überhaupt. 15 Prozent
aller Ehepaare sind ungewollt kinderlos. Mittlerweile werden in Deutschland
fast dreimal so viele Kinder im Jahr durch künstliche Befruchtung geboren
wie Kinder in Darmstadt.
Frage: Wie könnte die medizinische Praxis aussehen, wenn das Embryonenschutzgesetz
gelockert wird?
Leyendecker : Sollten wir die Möglichkeit haben, Embryonen zu beurteilen
und nur einen oder zwei für den Transfer auszuwählen - das ist übrigens
keine Selektion, denn es wird nur der Transfer der Embryonen verhindert,
bei denen bereits mikroskopisch erkennbar ist, dass sie sich nicht weiter
entwickeln werden -, dann wäre es allerdings unvermeidbar, dass
überzählige Embryonen entstehen. Deswegen sollten wir schon auf der Ebene
der Eizelle und der Zygote Auswahlkriterien entwickeln, damit möglichst
wenige Embryonen entstehen. Wenn ein modifiziertes Embryonenschutzgesetz
dann erlauben würde, dass aus den zwei oder drei entstandenen Embryonen
nur derjenige mit höchstem Entwicklungspotenzial für den Transfer
ausgewählt wird, dann könnten auch in Deutschland Schwangerschaftsraten von
bis zu 50 Prozent bei Transfer eines einzigen Embryos erzielt werden - bei
gleichzeitig sicherem Ausschluss einer Zwillingsschwangerschaft. Unter den
Bedingungen des Embryonenschutzgesetzes liegt die Schwangerschaftsrate bei
Transfer von einem Embryo zwischen sieben und zwölf Prozent, bei Transfer
von zwei Embryonen bei 23 Prozent mit einem zwanzigprozentigen Risiko
einer Zwillingsschwangerschaft.
Frage: Glauben Sie, dass das Gesetz bald verändert wird?
Leyendecker : Ja, und zwar in den nächsten zwei Jahren. Die
Reproduktionsmediziner werden zugleich intensiv daran forschen, dass sie
die Lebensfähigkeit des zukünftigen Embryos bereits auf der Ebene der
Eizelle oder der Zygote bestimmen können. Wenn wir das tun, werden weniger
Embryonen erzeugt. Denn die Reproduktionsmediziner wollen keine
überzähligen Embryonen. Der Embryo gehört in den Mutterleib und sonst
nirgendwohin. Dennoch kann es auch bei verbesserten Möglichkeiten
geschehen, dass von drei Embryonen, die wir heute schon nach dem
Embryonenschutzgesetz erzeugen dürfen, zwei lebensfähig sind, und es muss
daher die Möglichkeit geben, einen dieser Embryos nicht zu transferieren,
um eine Mehrlingsschwangerschaft zu verhindern.
Frage: Was soll mit den überflüssigen Embryonen passieren?
Leyendecker : Nach meiner Vorstellung muss man diese Embryonen dann
einfrieren können, um sie idealerweise der Mutter zu übertragen - entweder
im darauf folgenden Zyklus, wenn die Behandlung nicht funktioniert hat,
oder später, wenn sie ein zweites Kind möchte. Die Möglichkeit der
Embryonenadoption halte ich für problematisch. Der Umgang mit den
überzähligen Embryonen ist ein riesiges moralisch-ethisches Problem. Das
muss alles sehr sorgfältig durchdiskutiert werden. Missbrauch, zum
Beispiel Kommerz mit überzähligen Embryonen, muss sicher verhindert werden.
Frage: Welchen Weg schlagen Sie vor, wenn der Embryo nicht mehr seiner Mutter
übertragen werden kann?
Leyendecker : Ich sehe zwei Möglichkeiten: Embryonenforschung mit dem Ziel,
über vertiefte Einsichten besser heilen zu können, und andererseits das
Recht der Eltern zu entscheiden, dass der überzählige Embryo nicht
verwendet wird - weder für einen Transfer noch für die Forschung.