Roulette, Gesundheit und Menschenwürde
Ein Kommentar zur gesetzlichen Situation zur Bioethik in Deutschland
von Professor Gerhard Leyendecker, Darmstadt
Im Jahr 2002 wurden in Deutschland etwa 90000 Behandlungen der künstlichen Befruchtung bei etwa 53000 Frauen oder Paaren durchgeführt. In den letzten zehn Jahren addierte sich die Zahl behandelter Paare auf ca 500.000. Mittlerweile leben in Deutschland mehr Kinder nach künstlicher Befruchtung als manche Großstadt Einwohner zählt. Der Prozentsatz der durch künstliche Befruchtung geborener Kinder wird auf 3% pro Jahr geschätzt. Fasst man die Menschen zusammen, die als betroffene Paare, als Eltern, Großeltern oder informierte und mitfühlende Freunde mit der künstlichen Befruchtung in Berührung kamen, so geht diese Zahl mittlerweile in die Million. Still und leise hat sich in Deutschland ein Einstellungswandel vollzogen – zumindest erkennbar an der wachsenden Zahl derjenigen, die diese medizinische Hilfe und damit diesen Zivilisationsgewinn für sich in Anspruch nehmen. Und nicht wenige dieser Menschen wissen auf Grund eigener Erfahrung, daß die gesetzliche Situation zur Bioethik in Deutschland z. T. menschenfeindlich ist und gegen die Menschenwürde verstößt.
Undenkbar wäre es wohl, dass ein Jan Ross heute im Feuilleton der FAZ unter der Überschrift "Sex im Glas" erneut seine Meinung kundtun könnte, dass der eigentliche "Sexskandal" in der englischen Boulevardpresse nicht das Enthüllen des Privatlebens der englischen Politiker sondern das – wie kann man nur - positive Berichten über die Erfolge der Reproduktionsmedizin sei. Auch wird sich jener protestantische Kirchenfürst nicht ohne ein gewisses Schamgefühl an die damalige Politik-Talkshow erinnern, in der er zum Besten gab, dass der eigentliche Sinn der Reproduktionsmedizin die Gewinnmaximierung derjenigen sei, die sie betreiben. Nicht wenige jener Moderatorinnen, die wieder und wieder in Talkshows erfolglos behandelte Frauen mehr zur Quotensteigerung als zur Abschreckung präsentierten, haben sich am Ende ihrer eigenen reproduktiven Phase noch schnell einer solchen Behandlung unterzogen. Eine zur FAZ-Gruppe gehörende Ärztezeitung mokierte sich darüber, dass einem der beiden Begründer der künstlichen Befruchtung, Professor R.G. Edwards, der König-Feisal-Preis für seine bahnbrechende Leistung verliehen wurde (der Nobel-Preis wird nur für Leistungen in der theoretischen Medizin vergeben).
Es war dies jedoch das Klima, welches mit dazu beitrug, dass einmalig in der zivilisierten Welt mit Ausnahme der Schweiz (die sich dem deutschen Vorgehen anschloss) ein Gesetz, nämlich das Embryonenschutzgesetz, geschaffen wurde, welches eine Art "Roulettespiel" in die ärztliche Behandlung einführt. Die Folge sind verringerter Gesundheitsschutz für Mutter und Kind und großes Leid durch Misserfolg der Behandlung, vermeidbar häufige Behandlungsversuche, vermeidbare Mehrlingsschwangerschaften mit vorzeitiger Wehentätig und häufig viel zu früh geborenen Kindern, die manchmal nicht überleben oder für immer geschädigt bleiben.
Ursache dieses Roulettespiels und damit des gesundheitspolitischen und ethischen Skandals ist die gesetzliche Bestimmung, dass im Reagenzglas nur so viele Embryonen erzeugt werden dürfen, wie in dem selben Behandlungszyklus in die Gebärmutter übertragen werden sollen (maximal drei), folglich die Entscheidung für die Auswahl zur Generierung von Embryonen im Stadium der Eizelle getroffen werden muß, aber nur etwa jede sechste durch hormonelle Stimulation gewonnene Eizelle überhaupt die Chance für eine Schwangerschaft birgt, ihr dies jedoch unter dem Mikroskop nicht angesehen werden kann. Es ist daher ab einem sehr frühen Behandlungsstadium nicht dem medizinischen Können sondern weitgehend dem Zufall überlassen, ob eine Einlings- oder Mehrlingsschwangerschaft, eine Fehlgeburt oder auch gar keine Schwangerschaft resultiert. Dieser Zufall führt zu einer Schwangerschaftsrate von ca 25% pro Behandlungszyklus und einer ebenso hohen Rate von risikoreichen Zwillingsschwangerschaften. Beides liegt weit unter bzw. über dem medizinisch erreichbaren und akzeptablen Niveau.
Das zivilisierte westliche Ausland unter Einschluss von Österreich zeigt die pragmatische, medizinisch sinnvolle und gleichzeitig humane Alternative: Die Auswahl der Embryonen erfolgt am dritten Tag oder besser noch am fünften Tag der Kultur. Die meisten Embryonen (ca 70%) erleiden bis dahin im Reagenzglas das gleiche Schicksal, welches ihnen auch unter natürlichen Bedingungen widerfahren wäre: Sie erreichen nicht das Bläschenstadium als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Einnistung. Von den wenigen zeitgerecht entwickelten Embryonen wird nur einer und zwar derjenige in die Gebärmutter gespült, der – lichtmikroskopisch erkennbar die größtmögliche Chance einer Schwangerschaft bietet. Dies ist keine Selektion sondern eine Verbesserung der Chance, das eigentliche Ziel der Therapie, nämlich eine intakte Einlingschwangerschaft zu erzielen. Die Schwangerschaftsrate beträgt 40-50% bei praktisch kompletter Vermeidung von Zwillingsschwangerschaften. In der Regel bleiben bei diesem Vorgehen nach den Erfahrungen im Ausland ein bis zwei Embryonen übrig, die auch zu einer Schwangerschaft hätten führen können. Auf Wunsch des Ehepaares werden sie für einen eventuell erforderlichen weiteren Behandlungsversuch oder für eine weitere Schwangerschaft eingefroren oder aber verworfen. Bernhard Schlink hat in einer Argumentationskette auf den Opfercharakter dieses Verwerfens hingewiesen, ein Opfer für das Wohlergehen der Frau, der Schwangerschaft und des späteren Kindes. Der Begriff "Opfer" ist in unserer Gesellschaft mit einem gewissen Angstgefühl verbunden aber grundsätzlich positiv besetzt, und in der Tat werden mindestens seit der Jungsteinzeit (Abraham und Isaak) bis heute, wie Schlink darlegt, zuweilen extreme Opfer unter bestimmten Umständen von Mitgliedern der Gesellschaft erwartet ("Kinder und Frauen zuerst"). Die moralische Rigorosität, hierin eine Verletzung der "Menschenwürde" des Embryos im Reagenzglas zu sehen, ist geradezu unanständig angesichts der Haltung zur "Menschenwürde" des Embryos im Mutterleib. Ebenso unanständig ist es, mit dem Argument der Verfehlung der "Väter" (Jürgen Busche) vor 60 Jahren heute Menschen vermehrtem Leid auszusetzen. Dies führt im Ausland zu einer gewissen Fassungslosigkeit, weil wieder einmal auf Seiten der Führungselite zu sehr in Extremen gedacht wird. Der Missbrauch des Embryos kann auch ohne Vernachlässigung des Gesundheitsschutzes von Mutter und Kind verhindert werden, wie die pragmatische Entwicklung der Bioethik im Ausland zeigt.
Der unverkennbar gegenwärtig unternommene politische Versuch, Deutschland im Bereich der Bioethik auf das westliche zivilisatorische Niveau anzuheben, erzeugt gleichwohl ein gewisses Unbehagen. Dies liegt nicht so sehr an der an sich begrüßenswerten Tatsache als solcher sondern vielmehr an der verwendeten Argumentation. Offenbar glaubt man, eine Lockerung der bioethischen Rigidität nur über die Angsteinflössung, indem nämlich durch Verzicht auf die embryonale Stammzellforschung der wissenschaftliche Anschluß an das Ausland verloren ginge und wichtige Heilverfahren, z.B. gegen Parkinson oder Herzversagen nicht in Deutschland entwickelt würden. Letzteres appelliert an die mögliche Angst der meist schon älteren Entscheidungsträger, ihnen könnte im Falle einer eigenen Erkrankung eine dann notwendige Therapie nicht zur Verfügung stehen. Die aber bereits jetzt schon bestehende Not der Mütter und das Leid der Kinder durch ein medizinisches Lotteriespiel reichen als Argument in unserer Gesellschaft nicht aus – offenbar kommt sie den Ignoranten und "Moralaposteln" in Politik, Kirche und Feuilleton erst gar nicht in den Sinn. Nebenbei: Eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes, wie oben dargelegt, würde mehr Kosten einsparen als die hälftige finanzielle Belastung der Kinderwunschpaare durch die neue Gesetzgebung im Gesundheitswesen und gleichzeitig zu mehr Kindern führen. Unter vielen Aspekten ist Deutschland eben ein mental bis auf die Knochen kinder- und familienfeindliches Land.