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20.05.2004
 
Sonder-Newsletter Nr.10
 
Moral-Debatte statt Heilkunst (Die Welt, 29.03.04)

Die Bioethik reproduziert bloß fertige Meinungen –
und deren Differenzen sind unüberbrückbar.
Ein Artikel von Prof. Dr. Paul U. Unschuld (erschienen in der "WELT" vom 29.03.04).
Ferticonsult stellt diesen Artikel mit Einverständnis des Autors und der "WELT" ins WEB.

Nigel Cameron traf einen wunden Punkt: "Die Bioethik ist ein Sammelplatz für diejenigen, die schon eine Meinung haben." Der Vorsitzende des Beraterstabs für Biotechnologiepolitik in Washington erklärte jüngst auf einer Bioethiktagung in Bochum, jeder Teilnehmer an der weltweiten Debatte trage bereits eine fertige Meinung in sich, die im Nachhinein durch den Griff in den Vorrat historischer Aussagen mehr oder weniger elegant legitimiert werde.

Die Bioethik ist vor zwei, drei Jahrzehnten von Amerika ausgegangen und dort Teil der alltäglichen Politik geworden. Wäre nicht der 11. September gewesen, so Cameron, dann wäre die Präsidentschaft des George W. Bush wohl von jenem Thema geprägt worden. Die Bioethik hat die Jahrhunderte lange Vorherrschaft der von Ärzten definierten medizinischen Ethik abgelöst. Im Begriff einer Bioethik kommt der Anspruch nicht ärztlicher, im weiteren Sinne sogar nicht medizinischer Interessen zum Ausdruck, die Fortentwicklung der Medizin zu beeinflussen. Dabei geht es sowohl um die Interessen verschiedener Industrien als auch um die Durchsetzung kultureller, insbesondere religiöser Werte. Die im 19. Jahrhundert von der Medizin als Triumph empfundene Loslösung von theologischer Bevormundung weicht nun zunehmend einer neuen Abhängigkeit. Der Medizin wird das Mandat entzogen, weitgehend eigenverantwortlich ihren eigenen Fortschritt unter Nutzung der jeweils neuesten wissenschaftlichen Kenntnisse und technologischen Möglichkeiten zu bestimmen. Ob die Gängelung durch nicht medizinische moralische Steuerleute Vorteile bietet in dem Bemühen, menschliches Leid zu lindern, mag nicht zuletzt angesichts der deutschen Vergangenheit bezweifelt werden.

Y. Michael Barilan, praktizierender Arzt aus Tel Aviv, verglich in Bochum den maßvollen Umgang mit moralischen Fragen in der jüdischen Tradition mit der Unverhältnismäßig der Hingabe an die eine oder andere Idee in Deutschland. Das Pendel, so ein in Israel weit verbreiteter Eindruck, schwinge in Deutschland von dem einen Extrem des Holocaust zu dem anderen Extrem, nun gar den Präembryonen den Status menschlicher Würde zuzuerkennen – ein aus jüdischer Sicht unvorstellbarer Missbrauch des Konzepts der Menschenwürde. Und wer wisse denn, wann das Pendel wieder in die andere Richtung schwinge? In Israel wirft die Vergangenheit ebenfalls ihre Schatten auf die Gegenwart, aber es sind unbelastete Schatten. Das positive Gesetz der Thora, die strikte Trennung von Wissenschaft und Religion, der Personenbegriff, der erst ab der Geburt greift, und nicht zuletzt die Gewissheit, die Moralvorstellungen, wie sie im Bund der Juden mit Gott festgelegt sind, nur für das eigene Volk gelten zu lassen, erlauben den Israelis einen entspannten Umgang mit den Zellen, die in Deutschland so viel Bedeutung erhalten. Während also die Deutschen im Angesicht der NS-Verbrechen den Begriff der Menschenwürde weit in den vorgeburtlichen Bereich ausdehnen, beschränkt die jüdische Tradition die Anwendung dieses Begriffs auf den Umgang mit den Verstorbenen.

Kann es angesichts solcher Unterschiede im historischen Gepäck der Völker und Kulturen jemals eine Übereinkunft geben? Das ist nicht anzunehmen. Man sieht es am Verhalten der UN-Mitgliedsstaaten bei der Abstimmung über ein Verbot des Klonens von Menschen. Bioethische Argumente fanden in die Diskussionen kaum Eingang. Nach vielem Hin und Her setzte sich eine vom Iran mit Unterstützung der USA eingereichte Entschließung durch, die weitere Behandlung dieser Thematik auszusetzen. Angesichts verschiedener privatwirtschaftlicher Initiativen in mehreren Ländern, geklonte Babys in die Welt zu setzen, kann dieses Moratorium allein dem Ziel genügen, vielleicht erst die Ergebnisse abzuwarten, ehe die Forschung gänzlich verboten wird.

Alex Capron, der als Amerikaner in der Weltgesundheitsorganisation die Abteilung für Ethik, Handel, Menschenrechte und Gesundheitsgesetzgebung leitet, begründete diese Haltung mit der Anerkennung des hohen Wertes kultureller Vielfalt und abweichender Meinungen. Es komme nicht darauf an, der Welt eine bestimmte Meinung aufzuzwingen und anders Denkende zu unterdrücken, sondern einen Modus vivendi für die unüberbrückbaren Meinungsunterschiede zu finden. Vielleicht deutet sich hier eine ganz neue Richtung der Debatte an, die man in Deutschland noch gar nicht wahrgenommen hat. Während die Prinzipientreuen hier zu Lande nach wie vor der Illusion anhängen, der gesamten Welt den eigenen Stempel aufdrücken zu können, setzt man in den USA auf die Anerkennung einer Relativierung der Werte. Dass dieses Argument vielleicht nur deshalb in den Vordergrund geschoben wurde, um zukünftigen Entwicklungen der amerikanischen Biotechnologieindustrie die Tür offen zu halten, ist dabei nicht entscheidend. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Moral wirtschaftlichen Interessen folgt. In Deutschland steht die Politik unter dem Druck, die wirtschaftlichen Interessen der Moral unterzuordnen. Auch dies ist ein Kampf der Kulturen, bei dem der Sieger allerdings schon jetzt feststeht.

Zum Autor:
Paul U. Unschuld ist Professor für Geschichte der Medizin an der Universität München. Zuletzt erschien "Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst" (C. H. Beck).

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Gerhard Leyendecker